Eure Scheinheiligkeit kotzt uns an!

 

Eure Scheinheiligkeit kotzt uns an!

Ein Kommentar zur Gewaltdiskussion nach G20:

„Bürgerkrieg“, „Hinterhalt mit Tötungsabsicht“, „Terrorismus“.  

So tönt es in den letzten Tagen aus allen Richtungen wenn man über die Proteste gegen den G20 Gipfel in Hamburg redet. Egal, ob von Politiker*innen, Journalist*innen oder von der sogenannten „Bürgerlichen Mitte“, überall wird behauptet die „Gewalttäter*innen“ des „Schwarzen Blocks“ (wenn ich jedes Mal ein Bonbon bekommen hätte, als diese verkürzte und verallgemeinernde Beschreibung von militanten Protestierenden benutzt wurde, hätte ich jetzt wahrscheinlich Diabetes) hätten die friedlichen Proteste diskreditiert. Und da ist sie wieder, die altbekannte Gewaltdiskussion. Wer distanziert sich von wem oder was? Und warum tut er/sie das oder warum tut er/sie das nicht?

Wir werden uns in diesem Zusammenhang nicht auf das abgedroschene Wer hat angefangen?“ Was war wie schlimm?“ gegenseitige Schuldzuweisungsspielchen einlassen, sondern stattdessen ein paar allgemeine Gedanken zur Gewalt im politischen Kontext äußern.  

 

Gewalt ist eine alltägliche Erfahrung

Wir leben in einem System, das uns Tag für Tag Gewalt entgegenbringt. Es gibt unmittelbare, die man relativ leicht sieht – Menschen die aus ihren Wohnungen geräumt werden, Demonstrant*innen die zusammengeschlagen werden, Menschen, die abgeschoben werden, etc. Und es gibt strukturelle Gewalt, welche häufig unerkannt bleibt und meist nicht als Gewalt wahrgenommen wird.  Diese erlegt Menschen Zwänge auf, sie diskriminiert und verhindert, dass grundlegende Bedürfnisse befriedigt werden können. Kurz, es ist die Art der Gewalt, die das freie und selbstbestimmte Leben verhindert. Beispiele hierfür wären die Lohnarbeitszwänge aufgrund von Sachzwängen, und die Geschlechterdiskriminierung von weiblich gesehenen Personen in dieser Gesellschaft. Menschen sehen und erleben also jeden Tag Gewalt am eigenen Leib. Unter solchen Umständen, ist es kaum verwunderlich, dass diese Gewalterlebnisse sich auch in der Ausübung von Gewalt von Seiten dieser Menschen niederschlägt. Hier wäre die richtige Stelle, um kritisch zu hinterfragen, in was für gewalttätigen Verhältnissen man lebt und warum Menschen in gewissen Situationen bereit sind, sich diese Gewalt zu eigen zu machen. Oder eben auch unter welchen Sachzwängen Menschen leiden, wenn sie bereit sind, Geschäfte zu plündern. Dies wird aber nicht getan. Stattdessen wird  vom „Schwarzen Block“ gefaselt und so getan, als ob die Gewalt ausschließlich vom „Schwarzen Block“ ausgeht und wir sonst in einer friedlichen Gesellschaft leben würden.  

 

Gewalt und emanzipatorische Kämpfe

Ebenfalls hört man in den letzten Tagen immer wieder, der militante Teil der Demonstrierenden hätte den Rechtsstaat und die freiheitlich-demokratische Rechtsordnung, sprich unsere Freiheit angegriffen. Doch was ist mit dieser Freiheit eigentlich gemeint? Meinungsfreiheit? Glaubensfreiheit? Pressefreiheit? Demonstrationsfreiheit? Recht auf freie Entfaltung?  

Was Menschen, die mit diesem „Argument“ so inflationär um sich werfen, völlig außer Acht lassen, ist folgendes: Jeder einzelne dieser Freiheitsaspekte wurde erkämpft. Und zwar in der Regel gewaltätig und häufig gegen den Widerstand eines Nationalstaates. Egal, ob die französische Revolution, der Kampf gegen den Nationalsozialismus, die Black Power Bewegung in den USA oder der Kampf um das Projekt Rojava, der im Moment stattfindet.  All diese Bewegungen hatten oder haben den Widerstand eines Repressionsapparates zu überwinden und konnten ihre progressiven Ideen, welche unsere heutige Gesellschaft zu einem nicht unerheblichen Teil prägen, nur deshalb umsetzen, weil sie nicht auf Gewalt verzichtet haben. Es ist ein Ungeist unserer heutigen Zeit, dass ein Großteil der Menschen zu glauben scheint, wir leben im freiesten und gerechtesten System, das man sich vorstellen kann und jeder gewaltätige Angriff darauf sei ein Angriff auf das freie Leben überhaupt.  

 

Die Mär der unpolitischen Aufstände

Oft wird behauptet, dass nicht gewaltfreie Aktionsformen per se unpolitisch wären. So ist auch nach diesem Wochenende oft zu hören gewesen, dass die Menschen, die sich für diese Art des Protestes entschieden haben, „nicht links“ und keine Aktivist*innen wären, sondern „Krawalltouristen“ waren. Vollkommen unverständlich ist, warum die Wahl der Protestform irgendwas mit dem politischen Anspruch zu tun haben soll. Denn warum Menschen, die sich für eine illegalisierte Form des Protestes entscheiden unpolitischer sein sollen, als Menschen die auf irgendwelchen Tanzdemos mit Konfetti schmeißen, bleibt rätselhaft. Dabei wird völlig außer Acht gelassen, dass ein Aufstand an und für sich schon etwas politisches ist. Denn er zeigt die Wut über die momentanen Zustände und drückt diese mit größt möglicher Drastik direkt auf der Straße aus. Anstatt die Ursachen für die Wut der Menschen anzuerkennen –  zum Beispiel darüber, dass es in den letzten Tagen erneut zu einem Unglück im Mittelmeer kam, bei dem mindestens 120 Geflüchtete ertrunken sind – werden die Ausdrucksformen der Wut kritisiert. Was für ein Schwachsinn.

 

Nein zur Entsolidarisierung und Distanzierung!

Wir distanzieren und entsolidarisieren uns ausdrücklich nicht von irgendeiner Form des Protestes, welcher im Zuge des G20-Gipfels oder bei anderen Protesten stattgefunden hat, auch wenn wir nicht jede Form für sinnvoll erachten. Wir verurteilen Menschen, die täglich einem gigantischen Ausmaß an Gewalt gegenüberstehen nicht dafür, dass sie sich nicht nur mit Seifenblasen und Glitzer zur Wehr setzen. Dennoch geben wir der Roten Flora recht, welche in ihrer Pressemitteilung schrieb, dass politische Militanz zielgerichtet und vermittelbar sein muss und das nicht in jedem Fall gelang. Geschäfte anzuzünden, über denen sich Wohnungen befinden und einige weitere Aktionen in diesen Tagen waren ein No-Go.

Lasst uns zum Schluss eines ganz klarstellen: Wir sind gegen Gewalt! Wir hätten gerne eine Gesellschaft, in der es keine gibt und in der wir ein friedliches solidarisches Miteinander organisieren können. Doch solange wir in den repressiven Verhältnissen der Gegenwart leben, können und wollen wir niemandem vorschreiben, dass er/sie die linke Wange hinhalten muss, wenn er/sie einen Gummiknüppel auf die rechte bekommen hat.

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